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"Kindheitsgeschichte(n) - dezentrierte Perspektiven, de- und rekonstruktive Lesarten"

Bericht zum Workshop vom 06.10.17 und 07.10.17 an der Universität zu Köln 

Der Workshop Kindheitsgeschichte(n)- dezentrierte Perspektiven, de- und rekonstruktive Lesarten lud (Nachwuchs-)Wissenschaftler_innen ein, ihre aktuellen Forschungs- und Dissertationsvorhaben vorzustellen. Unter der Leitung von Wiebke Hiemesch (Hildesheim) und Rafaela Schmid (Köln) wurde disziplinübergreifend ein Raum geschaffen, Möglichkeiten de- und rekonstruktiver Lesarten von Kindheitsgeschichte und Kindheit anhand aktueller Forschungsvorhaben kritisch zu diskutieren. Die Beiträge gliederten sich in vier Themenblöcke: Theoretische Überlegungen (1), Historische Zugänge (2), ‚Biografische‘ Zugänge (3) und schließlich Selbstreflexionen: Fragen an die Kindheitsforschung (4). Gefördert wurde der Workshop durch die Graduiertenschule der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln, deren Geschäftsführerin CAROLINE GAUS (Köln) sich zu Beginn mit einem Grußwort an die Teilnehmenden wendete. ELKE KLEINAU (Köln), MEIKE SOPHIA BAADER (Hildesheim), STEFAN NEUBERT (Köln), WOLFGANG GIPPERT (Köln), PETRA GÖTTE (Augsburg) und KARLA VERLINDEN (Köln/Düsseldorf) waren eingeladen, um die Beiträge zu kommentieren und die Diskussionen zu eröffnen.

WIEBKE HIEMESCH (Hildesheim) thematisierte in ihrem Auftaktvortrag Dezentrierte Perspektiven - Kindheiten in nationalsozialistischen Konzentrationslagern als Teil der Geschichte der Kinder im 20. Jahrhundert einen blinden Fleck innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Forschung. Sie gab zu bedenken, dass die Erziehungswissenschaft selbst an der Herstellung eines Konzepts der idealen Kindheit beteiligt sei, was dazu führe, dass bestimmte Kindheiten nur unzureichend erforscht würden, beispielsweise Kindheiten in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Hiemesch betonte das Potenzial der erziehungswissenschaftlichen Kindheitsgeschichte, die gerade die Hervorbringung von Kindheit als gesellschaftshistorisches Konstrukt in den Blick nehme, und sprach sich für eine Dezentrierung ihrer Fragestellungen aus, die sich folglich nicht zwingend an dem Ideal bürgerlich-moderner Kindheit orientieren dürfe. Stattdessen bedürfe es einer Erforschung von Kindheit auch jenseits einer etablierten ‚Schutzmetapher‘ und damit einhergehend einer Erweiterung des bestehenden Verständnisses von Kindheit.

In dem Vortrag Dimensionen der Zeit in Kindheitsgeschichten und –erinnerungen, Betrachtungen der Kindheitsforschung nahm MARKUS KLUGE (Münster) mit Hilfe von Deleuze‘ Konzept von Chronos und Äon das komplexe Verhältnis von Zeitbezügen in 44 Artikeln aus der Zeitschrift Childhood in den Blick. Eine Annahme seiner Forschung ist, dass mit unterschiedlichem Verständnis von Zeitlichkeit verschiedene Vorstellungen von Kindheiten einhergingen. Auch wenn eine zeittheoretische Betrachtung von Kindheit gewisse Grenzen aufweise, betonte Kluge die Wichtigkeit und das Potenzial, welches in dieser Betrachtungsweise stecke. Auf dieser Grundlage kritisierte Kluge es als kurzschlüssig, Erinnerungen an Kindheit und ihre Darstellung als „bloße Rekapitulation von Vergangenem“ zu verstehen. Eine zeittheoretische Untersuchung im Deleuz‘schen Sinne, ermögliche es, die Vielfalt an Denkweisen und Vorstellungen von Kindheit(en) sichtbar zu machen.

MAX GAWLICH (Heidelberg) berichtete über sein geplantes Forschungsprojekt zu Praktiken der Sorge. In seinem Vortrag Kleinkindbetreuung in den 1970er Jahren im deutsch-deutschen Vergleich stellte er zunächst dar, dass die Gruppe der Kleinkinder und deren Betreuung in der Geschichtswissenschaft kaum beachtet werde. Die Bearbeitung dieser Forschungslücke ermögliche einen neuen Einblick in sich wandelnde und sich gegenseitig beeinflussende Produktions- und Reproduktionsweisen der 1970er Jahre, die im Umgang mit Kleinkindern sichtbar würden. Um dies zu untersuchen, betrachtet Gawlich das Modellprojekt Tagesmütter der Bundesregierung (1973-1980), exemplarisch am schwäbischen Landkreis Göppingen und die Krippenforschung des Instituts für Hygiene des Kindes- und Jugendalters in der ehemaligen DDR. Auf Körper- und Beziehungsebene der teilnehmenden Babys, Kleinkinder, Eltern und Betreuer_innen soll praxeologisch untersucht werden, wie sich die (Re-) Produktionsweisen in den 1970er Jahren veränderten. Als Materialgrundlage dienen ihm zeitgenössische und projektbegleitende Studien, Tätigkeitsauflistungen aus der Kleinkindbetreuung, Reanalysen bereits durchgeführter Interviews, die durch von ihm geführte Interviews mit verschiedenen Akteur_innen ergänzt werden sollen sowie pressefotographische Überlieferungen.

RAFAELA SCHMID (Köln) stellte in dem Vortrag ‚Besatzungskinder‘ – Vaterlosigkeit als Erklärungsmuster ‚unvollständiger Identität‘ anhand eines biografischen Beispiels dar, wie öffentliche und wissenschaftliche Diskurse biografische Erzählungen beeinflussen und wie sie an der (Re-)Konstruktion von Kindheitskonstruktionen beteiligt sind. Mit Rückgriff auf den aktuellen Forschungsstand konstatierte sie, dass es ‚das Besatzungskind‘ nicht ohne die Thematisierung des abwesenden biologischen Vaters gebe. Aufgrund von Vaterlosigkeit werde außerdem die Identität der sogenannten ‚Besatzungskinder‘ konsequent als eine ‚gefährdete‘, ‚nicht-gelungene‘ und ‚unvollständige‘ Identität gelesen. In der Fachliteratur zu ‚Besatzungskindern‘ sei eine Identität, um als ‚lückenlos‘, ‚ganz‘ und ‚vollständig‘ zu gelten, an das Wissen um die ‚biologischen Wurzeln‘ und/oder die Anwesenheit des biologischen Vaters geknüpft. Die Betonung der Wichtigkeit des biologischen Vaters, wie auch eine gewisse patriarchale Logik, die den in der Fachliteratur angezeigten psychologischen und psychoanalytischen Identitätsmodellen zugrunde liegen, schließe nicht nur die Mütter, sondern auch die Kinder als aktiv Beteiligte aus.

ANN-KRISTIN KOLWES (Köln) nahm sich in ihrem Vortrag ‚Kriegskinder‘ und der abwesende Vater nach dem 2. Weltkrieg – Konstruktion und Wirklichkeit eines besonderen Verhältnisses ebenfalls dem Gesamtkonstrukt des abwesenden Vaters an. Im Rahmen ihres Dissertationsprojektes beschäftigt sie sich mit den Lebensumständen der Frauen und Kinder deutscher Kriegsgefangener zwischen 1941 und 1956. Augenmerk legte sie in ihrem Vortrag auf die frühen 1950er Jahre, wobei sie keine explizite Unterscheidung zwischen BRD und DDR vornahm. Ann-Kristin Kolwes beschrieb eine Diskrepanz zwischen der Art und Weise, wie sich die ‚Kriegskinder‘ über ihren abwesenden Vater äußerten und der heutigen Berichterstattung über das Verhältnis zwischen den Kindern und ihren abwesenden Vätern. Auf Grundlage von autobiografischen Quellen, wie beispielsweise Bittbriefen der Kinder an den Staatspräsidenten der DDR Wilhelm Pieck, mit der Bitte, sich für die Freilassung des kriegsgefangenen Vaters einzusetzen, arbeitet sie die damaligen vielfältigen Arten des Sprechens über den abwesenden Vater heraus, die heute jedoch lediglich auf eine „kollektive Erfahrung“ reduziert seien. Mögliche Erklärungen sieht Kolwes in einer bestimmten resp. bestimmenden Berichterstattung rund um die ‚Generation der Kriegskinder‘ im medialen und öffentlichen Diskurs, in der die unterschiedlichen Gründe der Abwesenheit des Vaters und das damit einhergehende Selbstverständnis der Kinder und Mütter zu einer homogenen Erfahrung gemacht werde.

Mit dem Vortrag Kindheits- und Erwachsenheitskonstruktionen in_durch sozialwissenschaftliche (Kindheits)Geschichten. Erkenntnispotentiale einer de- wie rekonstruktiven Perspektivierung von ANNA FANGMEYER (Halle-Wittenberg) begann der zweite Workshoptag. Im Zentrum ihres Vortrages standen „Möglichkeitsbedingungen und regelmäßige (Un)Sagbarkeiten kindheitssoziologischen Sprechens“, welche sie in Anlehnung an Michel Foucault in der „Diskursgemeinschaft“ der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung ausfindig zu machen versucht. Anna Fangmeyer setzt sich mit dem Sprechen über ‚Kinder‘ und ‚Kindheit‘ in der Forschung und dem i.E. damit schon immer einhergehenden Konstruktionscharakter der Forschung selbst auseinander. Forscher_innen befänden sich immerinmitten eines Diskurses und seien dadurch an einer spezifischen Hervorbringung von Kindern und Kindheit beteiligt. Die Frage nach der eigenen Beteiligung an der Hervorbringung von Kindheitskonstruktionen und selbst der Umstand, diese überhaupt als relevant und einschlägig aufzufassen, sei derzeit nicht selbstverständlich.

CLARA ZIMMER (Berlin) und HOA MAI TRAN (Berlin) berichteten in ihrem Vortrag Hervorbringung sogenannter „Flüchtlingskindheit(en)“. Ambivalenzen, Herausforderungen und mögliche Potenziale in der Forschung mit jungen Kindern in Not- und Gemeinschaftsunterkünften aus dem Forschungsprojekt Alltagserleben von geflüchteten Kindern bis 6 Jahren in Gemeinschafts- und Notunterkünften (2016-2017), welches unter der Leitung von Prof. Dr. Anne Whistutz (Berlin) und in Kooperation mit der Fachstelle Kinderwelten (ISTA Berlin) durchgeführt wurde. An den Anfang ihres Vortrags stellten Clara Zimmer und Hoa Mai Tran die Dominanz von Integrationsdiskursen, in denen Kinder mit Fluchterfahrung zu hilfebedürftigen, traumatisierten ‚Objekten‘ homogenisiert würden. Im Anschluss thematisierten sie die Frage nach relationaler Agency, zu verstehen als Handlungsfähigkeit und -möglichkeit, die, eingebettet in konkrete Lebensverhältnisse, räumlich, sozial und zeitlich hervorgebracht werde. Durch Forschungsansätze partizipativer Forschung geleitet, wurden in dem Porjekt Interviews und Beobachtungen im Feld durchgeführt. Die vorgestellten Analysen zeigen, wie (fluide) Grenzmarkierungen dem Handeln Grenzen setzten und wie die aktive Aneignung von Zwischenräumen, Möglichkeiten biete, sich Handlungsfähigkeit zurückzuerobern resp. hervorzubringen.

Der Workshop schloss mit einem Abschlusskommentar von ELKE KLEINAU (Köln) und MEIKE SOPHIA BAADER (Hildesheim). Die Workshopbeiträge hätten gezeigt, dass sich im Nachdenken über Kindheit, vielfältige Forschungsinteressen vereinen. So seien sowohl stärker soziologisch gelagerte Fragen wie auch solche einer Pädagogik der frühen Kindheit aufgeworfen worden. Ebenso könnten geschichtswissenschaftliche wie auch dezidiert erziehungswissenschaftliche Zugänge voneinander gewinnen. Durch die Beiträge hindurch sei deutlich geworden, dass Kindheitsforschung ihren Gegenstand ‚Kindheit‘, zunächst konstruieren müsse, um ihn beforschen zu können. Doch das Wissen um die Konstruiertheit des Gegenstandes drohe in Vergessenheit zu geraten. Eine quer gelagerte historische Perspektive, könne dieses Wissen um die Historisierung der Begriffe bereitstellen und die Involviertheit der Forschung in die diskursive Hervorbringung eines Sprechens über Kindheit in den Blick rücken. Der Workshop setzte neue Impulse für die historische Perspektive im Nachdenken über Kindheit und betonte die Bedeutung, dass Forschende stets ihre eigene Position im Sprechen über Kindheit reflektieren.

Leonie Fischer & Christoph Piske

Key outcomes following the Expert Meeting “Children Born of War in a Comparative Perspective: State of the Art and Recommendations for Future Research and Policy”

March 3-4, 2016, Cologne

On 3-4 March 2016 SINTER University of Cologne in conjunction with GESIS-Leibniz Institute for the Social Sciences hosted a two-day interdisciplinary workshop for the purposes of exchanging knowledge and identifying key areas for further research and policy. In total, 11 participants were in attendance representing expertise from the disciplines of social sciences, law, medicine, public health, history and pedagogy. This document constitutes the outcomes of that meeting. The workshop was very successful and identified priorities for further research and policy in this area. In this document we present a summary of the outcomes of that meeting, in full recognition of the need for further such meetings and research collaborations as this work continues.

”Children Born of War” The phrase Children Born of War refers to those children who, in the context of an armed conflict, have a local civilian woman as a mother and are fathered by a foreign soldier, para-military officer, rebel or other person directly participating in hostilities. These children have been born as a result of armed conflicts throughout history. For present purposes the term has been adapted to cater to modern warfare and for that reason we include children born to child soldiers and children fathered by members of a peacekeeping troop.

The situations which lead to the birth of a Child Born of War differ in their nature. During armed conflict, it can be especially difficult to distinguish between voluntary and forced sexual relations. As a consequence, Children Born of War can be the result of intimate relationships but also because of the use of sex as a survival strategy, such as in exchange for goods or money. Conflict-related sexual violence, including gang rape and sexual slavery is prevalent and also results in pregnancies. Sexual violence is used against women and men, girls and boys and as a weapon of war, systematically destroying the communities in which it is perpetrated. Some of the women and girls who have had children as a consequence of these crimes are among the refugees presently seeking security in Europe.

Key outcomes from the expert meeting

The expert meeting recommends that further effort is required in the realms of both politics and research. Below we have separated key points from the expert meeting into two categories. First, we have listed key issues for which resolutions reside with policy-makers. Second we have identified key areas for further research.

The need for political solutions:

• The existence and specific needs of Children Born of War should be openly recognized and addressed within national governments and the international community as a matter of priority.

• Each national government should identify and support national and international organizations which work to protect the wellbeing of children in war and post-war situations.

• The immediate needs of children, including their right to social support, health care, food and shelter, parenting and education must be secured. It is the primary responsibility of the state in which a Child Born of War is physically present to protect his or her fundamental rights.

• Mothers and/or legal guardians of Children Born of War, as well as the children themselves, should be provided with practical support, including legal advice. They should have legal remedies available to ensure that the fathers are held responsible for those children, both legally and financially.

• Securing women’s rights will often improve the protection of children. International guidelines are useful to ensure that the rights of the mothers and their children are upheld. However, such guidelines must take into account that the interests and needs of women and children do not always complement one another, and might in some cases directly conflict.

• Children Born of War can suffer from a lack of knowledge about their biological parents. Governments as well as national and international institutions are encouraged to put concrete measures in place to ensure the right of a Child Born of War to preserve his or her identity and, to the extent possible, to know his or her parents.

• Support measures must be developed and implemented in a way that incorporates measures to protect the identity of Children Born of War and their mothers and to ensure that they will not be endangered, discriminated or stigmatized.

• The diverse array of national and international actors that support mothers and children should cooperate closely which each other. Cooperation will allow for early identification of Children Born of War and the provision of appropriate support services.

• Given the prevalence of conflict-related sexual violence and sexual violence-related pregnancies leading to Children born of War, women living in conflict and post-conflict settings should have access to safe and evidence-based comprehensive reproductive health care options.

• The systematic use of sexual violence as a strategy of war must be prosecuted as a war crime by national or international criminal tribunals.

Need for further research:

• There is a need for reliable, systematically collected data on Children Born of War. Funding for research on Children Born of War and the implementation of evidence-based support measures should be provided by national as well as international research supporting institutions.

• Internationally comparable and interdisciplinary studies are needed, which gather information on the life histories of the mothers and children as well as on the attitudes and behaviors of their families and communities.

• Trans-disciplinary research collaborations are highly recommendable for advancing policy related to Children Born of War. Funding and educational resources should target to foster such collaboration.

• There should be stronger networking among researchers and between researchers and policymakers. Research should aim to directly engage those affected and include innovative participatory research methods and dissemination. Adherence to ethical standards related to human subjects research is critical.

• Research collaboration between researchers, policy-makers and legislators is important to ensure that the rights of Children Born of War are protected, both within and outside the armed conflict context.

• There must be further research on the coping strategies of Children Born of War and long-term impacts on children’s health and wellbeing. Results of this research should directly inform support measures.

• Research on the fathers of Children Born of War should be conducted to understand structural and culture-specific behavioural patterns towards the mothers of their children, and women and children generally, in conflict-affected areas.

• Access to data and information from military and other armed groups is imperative, in order to analyze the organizational structure and culture where sexual violence forms part of military strategy. This data must be obtained in a way that protects the identity of victims and respects the integrity of relevant criminal proceedings.

 

Ankündigung des Sammelbandes zur Tagung 'Besatzungskinder und Wehrmachtskinder - Auf der Suche nach Identität und Resilienz'

Children born of war in a comparative perspective – state of the art and recommendations for future research and policy implementations

Bericht zum Expert Meeting vom 3. bis 4.03.2016

Kinder, die während oder nach einer kriegerischen Auseinandersetzung geboren werden, gab es immer und wird es immer geben. ‚Kinder des Krieges‘ werden darüber definiert, dass sie eine einheimische Mutter und einen Vater einer anderen und in der Regel feindlichen Nation haben. Sie wachsen nicht selten in einem Umfeld aus Zerstörung, Diskriminierung und Stigmatisierung auf, dem sie in einer Phase der Identitätsbildung ausgeliefert sind. Doch auch wenn Kinder als Schutzbedürftige in die Kategorie der Opfer fallen, sprengen die sogenannten ‚Kindersoldat_innen‘ diese kategorischen Grenzen, indem sie die Rolle der Opfer und der Täter_innen zugleich in sich vereinen. Seit einiger Zeit sind die ‚Kinder des Krieges‘ auch in den Fokus wissenschaftlichen Interesses gerückt.

Auf dem von den Professorinnen Elke Kleinau (Universität zu Köln, SINTER) und Ingvill C. Mochmann (GESIS und Cologne Business School) organisierten Expert_innen Meeting, das am 3. und 4. März 2016 in der Cologne Business School stattfand, widmeten sich Wissenschaftler_innen aus unterschiedlichen Disziplinen dem Thema und stellten ihre Forschungsergebnisse vor. Es sollte kritisch herausgearbeitet werden, wie mit diesem aktuellen und sensiblen Thema auf wissenschaftlicher Ebene umzugehen sei, inwiefern Kenntnisse aus vergangenen Dekaden für die Gegenwart und Zukunft von Bedeutung sein könnten und wie diese in wissenschaftliche, politische und praktische Maßnahmen transferiert werden können. Und so standen ‚Besatzungskinder‘, ‚Wehrmachtskinder‘ des Zweiten Weltkrieges, ‚Kindersoldat_innen‘ und andere von aktuellen kriegerischen Konflikten betroffene Kinder im Zentrum der Diskussion.

Nach der Begrüßung und organisatorischen Hinweisen startete das erste Panel, das sich mit ‚Kindern des Krieges‘ in der Gegenwart beschäftigte.

Begonnen wurde mit einem Beitrag über ‚Kinder des Krieges‘, die möglicherweise nie auf die Welt gekommen sind. Jennifer Scott (Brigham and Women´s Hospital, Harvard Medical School, USA; z.Zt. L'École des Hautes Études en Sciences Sociales, Institut des mondes africains, France) berichtete in ihrem Vortrag „Influences on decision-making processes among women with sexual violence-related pregnancies in eastern Democratic Republic of Congo“ davon, welche Entscheidungsmöglichkeiten kongolesische Frauen hatten, die aufgrund einer Vergewaltigung schwanger geworden waren. Seit 1996 ist die Region um den Kongo in Unruhen verwickelt, die seither mehr als fünf Millionen Menschenopfer gefordert haben. Scott verwies auf die Tatsache, dass die Vergewaltigung von Frauen in dieser Region zu einer Kriegswaffe geworden sei, was auch an der Zahl von 200.000 Angriffen auf Frauen in den letzten 12 Jahren auszumachen sei. Der Schwerpunkt des Vortrags lag auf dem Prozess, den vergewaltigte Frauen in ihrer Entscheidungsfindung, das Kind auszutragen oder die Schwangerschaft abzubrechen, durchliefen und welche Faktoren zu der einen oder anderen Entscheidung führten. Dieser komplexe Prozess der Entscheidungsfindung würde von den Frauen unter Berücksichtigung religiöser, moralischer, partnerschaftlicher und sozialer Einflüsse beeinflusst. Es sei außerdem wichtig die Auswirkungen des individuellen Traumas einer jeden Frau zu berücksichtigen.

Norman Mukasa (University of Deusto, Spain; z.Zt. Muteesa I Royal University, Uganda) begann seinen Vortrag „Victims in war and peace: Mothers and Children Born of War in Northern Uganda“, indem er einige Begriffe wie ‚Children born of war‘ und ‚Child/Young Mothers‘ definierte. Diesen ‚Kinder-Mütter‘, die in Uganda auch ex-LRA´s (LRA= Lord´s Resistance Army) genannt werden, gilt das Forschungsinteresse Mukasas. Für seine Untersuchungen interviewte er 13 junge Mütter im Alter zwischen 16 und 25 Jahren, die alle Opfer sexueller Gewalt waren und noch vor ihrem 18. Lebensjahr Kinder bekamen. In seinem Vortrag fokussierte er sich auf den Alltag der Mütter und ihrer Kinder und die Herausforderungen, denen sich diese jungen Mütter stellen müssen. Außerdem ging er auf die sozialen Einflüsse ein, die für eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft wichtig seien. Mukasa betonte, dass die Mütter mit ihren Kindern Stigmatisierungen, Diskriminierungen und Ausgrenzungen ausgesetzt seien. Und er verwies auf die Konsequenzen von Schlaflosigkeit, über Traumata bis hin zu Identitätsverlust, die dies für die Betroffenen habe. Mit seiner Forschung wolle Mukasa auf die Notwendigkeit aufmerksam machen, den Müttern und ihren Kinder ihre Rechte und ihre Würde zurückzugeben.

Judith Imholt (Absolventin der CBS) stellte in ihrem Vortrag „Refugees in Cologne – experiences from the field“ ihre Arbeit in der Flüchtlingshilfe in Köln vor und berichtete von ihren persönlichen Erfahrungen im Umgang mit jungen, meist männlichen Flüchtlingen.

Der Tag wurde von Miriam Cullen (University of Copenhagen, University of Oxford, Centre for International Law and Justice und TraumAid International) beschlossen, die in ihrem Vortrag „Children and international criminal prosecutions“ auf die Strafverfolgung von Kindern einging sowie die Herausforderungen Kinder als Zeugen in Gerichtsprozesse zu nutzen, insbesondere bei kriegerischen Konflikten.

Der zweite Tag, der sich mit ‚Kindern des Krieges‘ aus vergangenen Konflikten beschäftigte begann mit dem Vortrag „Children born of Occupation – experiences of education and differentiation“ von Rafaela Schmid und Elke Kleinau (beide Universität zu Köln), die ihr Forschungsprojekt über „Besatzungskinder in Deutschland nach 1945“ vorstellten. Nach einer Einführung in das Thema und die aktuelle Forschungssituation erklärten sie ihre methodische Vorgehensweise mit biografisch-narrativen Interviews, die sie mit der offenen Frage: „Würden Sie mir bitte ihre Lebensgeschichte erzählen?“ beginnen. Die Geschichte, die daraufhin erzählt wird, wird als ein Produkt von Interaktionen zwischen Forscher_innen und Befragten interpretiert. Derzeit analysierten Schmid und Kleinau 16 bereits geführte Interviews mit ‚Besatzungskindern‘ aus allen vier Besatzungszonen, was zu neuen Fragestellungen führe. Besonders der Umgang mit „professionellen“ Zeitzeug_innen, für die es zu einer Bewältigungsstrategie geworden sei ihre Geschichte zu erzählen, sei eine große Herausforderung.

Im Folgenden stellten Andrea Meckel (GESIS und Universität zu Köln) und Ingvill C. Mochmann in dem Vortrag „Social Trust and Children born of War“ Ergebnisse zum sozialen Vertrauen von ‚Wehrmachtskindern‘ vor. Die Daten wurden im Rahmen einer quantitativen Studie anhand von Fragebögen unter der Leitung von Martin Miertsch erhoben und sind Teil eines größeren internationalen Kooperationsprojektes. Die norwegischen ‚Kinder des Krieges‘ wurden nach ihrer Kindheit, traumatischen Erlebnissen, Identitätssuche, Diskriminierungs- und Stigmatisierungserfahrungen und ähnlichem gefragt. Die Forschungsfrage bezog sich dabei auf die Annahmen, dass negative Erlebnisse in Interaktion mit anderen Menschen zu einem geringeren sozialen Vertrauen führten und dies durch das Selbstwertgefühl der Betroffenen vermittelt wird.

Oskars Gruzins (University of Latvia) präsentierte eine Übersicht seines Dissertationsvorhabens „My father wore an Occupier´s Uniform: Experiences of Children Born of German and Soviet Soldiers in Latvia“, welches innerhalb des Marie Curie Initial Training Network Projekts „Children born of War – Past, present and future“ entstehen soll. In seiner Untersuchung wolle er sich auf den Zeitraum von 1944/45 bis 1991 konzentrieren. Gruzins betonte, dass die ‚Kinder des Krieges‘ aus Lettland sowohl ‚Wehrmachtskinder‘ als auch Kinder von Sowjetsoldaten sind. Er formulierte mögliche Theorien, Fragestellungen und eventuelle Schwierigkeiten, die ihn erwarten könnten. Die Forschungslage über die in Lettland geborenen ‚Kinder des Krieges‘ sei unzulänglich, was eine generelle Aufarbeitung des Themas erfordere. Die größte Hürde stelle die Suche nach geeigneten Zeitzeug_innen und anderen Informationsquellen dar. Aufgrund einer jahrzehntelangen gesellschaftlichen Tabuisierung des Themas wüssten viele ‚Kinder des Krieges‘ nichts von ihrem eigenen Schicksal.

Der letzte Beitrag der Tagung  wurde von einem dänisches ‚Wehrmachtskind‘ gehalten. Arne Øland (Repräsentant von Born of War international network) berichtete in seinem Vortrag „Practical, juridical and political suggestions – voices from BOW i.n. representatives“ über die Schwierigkeiten, denen sich ‚Kinder des Krieges‘ stellen müssen, um ihre biologischen Väter ausfindig zu machen. Da die Gesetze in den einzelnen Ländern verschieden sind, sei es oftmals schwierig und manchmal unmöglich an die nötigen Akten zu kommen. Abschließend stellte er die Organisation BOW i.n. vor, die 2007 gegründet wurde und sich als ein internationales Netzwerk verstünde, das die ‚Kinder des Krieges‘ über Grenzen hinweg unterstützten und koordiniere. Zudem sei es ein Ziel der Organisation präventiv tätig zu werden. Seit Jahrzehnten mit Fragen nach Identität und biologischer Herkunft befasst, diskutiert BOW i.n. auch aktuelle Problematiken, wie die Bedeutung der biologischen Herkunft bei Kindern von Samen- oder Eispender_innen.

In der anschließenden Abschlussdiskussion, wurden die vergangenen zwei Tage angeregt resümiert. Man war sich einig, dass die Erforschung der Situation von ‚Kindern des Krieges‘ wichtig und zukunftsweisend sei. Die bereits erlangten Ergebnisse bergen Möglichkeiten, die in aktuellen Situationen anzuwenden sein könnten. Auf politischer Ebene sei es von besonderer Wichtigkeit, internationale Richtlinien zu schaffen, die die Rechte der Frauen und ihrer Kinder sicherten. Die Stärkung der Rechte von Frauen sei oftmals auch der beste Schutz für die Kinder, nicht immer aber seien die Interessen von Frauen und Kindern identisch. Besonders die unmittelbaren Bedürfnisse in Hinsicht auf Gesundheit, Ernährung und Ausbildung müssten sichergestellt werden. Auf wissenschaftlicher Ebene sei es hingegen besonders wichtig die bereits gesicherten Daten der ‚Kinder des Krieges‘ systematisch zu sammeln. Es müssten international vergleichende und interdisziplinäre Forschungen zu Lebensverläufen von Müttern und ihren ‚Kindern des Krieges‘ durchgeführt werden. Darüber hinaus sei es unabdingbar den Fokus der Forschung verstärkt auf die Täter_innen von sexueller Gewalt zu legen. Wissen über die verschiedenen militärischen Gruppen, deren Kulturen, ethnischen Prinzipien, Verhaltensregeln und Geschlechterrollenvorstellungen sei notwendig, um sexuelle Gewalt im Krieg zu bekämpfen.

Auch müsse darauf hingearbeitet werden, den ‚Kindern des Krieges‘ einen besseren Zugang zu den Archiven zu ermöglichen. Ein weiterer Konsens lag auf der Forderung verstärkt interdisziplinäre Projekte zu fördern und finanziell zu unterstützen sowie die Forscher_innen aller Disziplinen stärker miteinander zu vernetzen. Zum Abschluss der Tagung wurden Grundzüge einer Empfehlung erarbeitet, die an die relevanten Interessengruppen weitergeleitet werden sollen.

Daniela Reinhardt

Besatzungskinder und Wehrmachtskinder – Auf der Suche nach Identität und Resilienz

Bericht zur Tagung am 07. & 08.05.2015 im GESIS Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften in Köln

 

Das Kriegsende und die Befreiung vom deutschen Faschismus jährt sich dieses Jahr zum 70. Mal. Viele Gedenkfeiern und wissenschaftliche Tagungen, die zu diesem Jubiläum stattfinden, widmen sich höchst unterschiedlichen Themen. Ein Thema erfreut sich jedoch erst jüngst größeres wissenschaftlichen Interesses: die Gruppe der Wehrmachts- und Besatzungskinder. Auf der zweitägigen Tagung in Köln wurden diese Kinder in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses gerückt. WissenschaftlerInnen aus verschiedenen Disziplinen präsentierten und diskutierten ihre Forschungsergebnisse und auch Betroffene selbst kamen zu Wort.

Die Tagung begann mit der Begrüßung und mit organisatorischen Hinweisen der Veranstalterinnen Elke Kleinau (Universität zu Köln) und Ingvill C. Mochmann (GESIS und Cologne Business School). Das Grußwort von Mechthild Rawert (MdB) hob hervor, dass sich die Politikerin, die bereits verschiedene Initiativen zur Verbesserung der Rechtslage von Kriegs- und Besatzungskindern angestoßen hat, von der Tagung neue Erkenntnisse und Denkanstöße für ihr politisches Handeln erhofft.

Barbara Stelzl-Marx (Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Graz) stellte anhand von biografischen Beispielen dar, welchen Formen von Diskriminierung Besatzungskinder in Österreich ausgesetzt waren und welche Strategien ihnen zur Bewältigung dieser Erfahrungen zur Verfügung standen. Die Referentin ging von 30.000 Kindern aus, die in der ersten Zeit der Besatzung gezeugt wurden, die Hälfte davon von Rotarmisten. Das Aufwachsen, umgeben von einer Mauer des Schweigens, habe bei vielen Kindern zu Identitätskrisen geführt. Zur Bewältigung ihrer traumatischen Erfahrungen hätten viele Kinder versucht, den Makel aus einer unvollständigen Familie zu kommen, zu kompensieren, indem sie einen speziellen Stolz auf ihre Herkunft entwickelten. Diese Strategie wurde als Resilienzfaktor angeführt, was in der anschließenden Diskussion in Frage gestellt wurde.

Im Folgenden Stellte Rainer Gries (Universität Wie und Siegmund Freud Privat-Universität Wien) Ergebnisse des gemeinsam mit Silke Satjukow (Universität Magdeburg) durchgeführten Forschungsprojektes vor, das am Beispiel von sowjetischen und französischen Besatzungskindern die historischen Bedigungen von Zeugung, Geburt und Aufwachsen beleuchtet. Das Projekt wertete zahlreiche archivalische Quellen und oral-history Interviews aus. Ein Stigma aller deutschen Besatzungskinder sei, dass sie "Kinder des Feindes" waren. In der SBZ und der späteren DDR waren Besatzungskinder offziell kein Thema. Sie wurden unter die unehelichen Kinder subsumiert. In westdeutschland wurde anfänglich die Meinung vertreten, man müsse die Besatzungskinder in die Heimat der Väter 'zurückschicken'. Nachdem jedoch die ersten Besatzungskinder Ostern 1952 eingeschult wurden, rückten sie verstärkt in den Fokus der medialen Öffentlichkeit, der von dem Gedanken getragen war die Kinder in die Gesellschaft zu 'integrieren'. Diese Forderung habe dazu geführt, dass aus den "Kindern des Feindes" "Kinder der Freunde" wurden. Ausgehend von einem Fallbeispiel, in dem ein kleiner Junge den unbekannten Vater als mächtigen, ihn beschützenden Gendarmen imaginierte, wurde der abwesende Vater zum Resilienzfaktor erklärt. Diese These wurde in der anschließenden Diskussion äußerst kritisch hinterfragt, wobei deutlich wurde, dass die VertreterInnen der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen von einem höchst unterschiedlichen Resilienzbegriff ausgingen.

Die französischen Besatzungsmächte pflegten einen anderen Umgang mit ‚ihren‘ Besatzungskindern. Auch wenn nach deutschem Recht die Besatzungskinder von französischen Alliierten Deutsche waren, gab es eine Bewegung der ‚retour en France‘. Frankreich organisierte Kindertransporte nach Paris und bot den Müttern an, die Kinder zu ihren Vätern zu bringen. Die Kinder seien allerdings in französische Adoptivfamilien vermittelt und mit einer neuen Identität zu ‚Franzosen‘ erklärt worden. Vor dem Transport nach Paris hätten Ärzte diese Kinder untersucht und wer krank oder behindert gewesen sei, fiel durch das Raster, wurde an die Mütter zurückgegeben oder kam in ein deutsches Heim. Daran entzündete sich eine Diskussion um den verwendeten Selektionsbegriff, der von Teilen des Publikums abgelehnt wurde, weil er die Bevölkerungspolitik der Franzosen auf eine Stufe mit der der Nationalsozialisten stellte. Unbestritten war jedoch, dass hier Eugenik praktiziert wurde.

Wolfgang Hartung (Universität Duisburg-Essen) begann seinen Vortrag mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit Begriffe wie „Kollateralschaden“, „Bastarde“, „Besatzungssoldaten“ und vor allem „Besatzungskinder“ genau zu definieren. In seinem Vortrag ging es um deutsch-marokkanische, ‚schwarze‘ Besatzungskinder. Anhand von Archivmaterial sowie Interviews wurde deren Fremdheitserfahrungen und Suche nach Identität analysiert. Der Vortrag beleuchtete insbesondere die soziale Herkunft der Väter, von denen viele bei der Rekrutierung noch minderjährig waren und heute als ‚Kindersoldaten‘ bezeichnet würden. Die Goumiers [1]  wurden bereits im September 1945 wieder abgezogen. Im Gegensatz zu anderen Besatzungssoldaten kamen sie meist aus sehr armen Verhältnissen, was ein späteres Kennenlernen von Kindern und Vätern nahezu ausschloss. Trotzdem hatten die Goumiers einen erheblichen Anteil an der Befreiung Süddeutschlands inne. Das alles seien Faktoren, die in die Bewertung der Väter mit einfließen müssten. Ihre Kinder seinen "Kinder von Siegern", nicht von Verlierern. Trotzdem hatten diese Kinder immer mit dem Stigma des 'Fremden' und mit dem Stigma des 'Farbigen' zu kämpfen.

Cornelia Burian (University of Calgary) analysierte in ihrem Vortrag den autobiografischen Roman „Neun Briefe, drei Fotos, ein Name – Biografie einer deutschen Frau“ von Petra Mitchell. Dieser skizziert den Lebensweg der Deutschen Helene und des amerikanischen Soldaten Peter, deren Tochter Petra 1947 geboren wurde. Petras früheste Erinnerung ist die, dass sie als Problem wahrgenommen wird. Sie wird als „Bastard“ und „Ami-Kind“ beschimpft, wächst zu einem unsicheren Menschen heran und ist ihr Leben lang auf der Suche nach ihrer eigenen Identität und ihrem Vater. Ihre Identitätskrise wird jedoch zum positiven Motivationsfaktor. Der Vortrag konzentrierte sich auf die Resilienz der Autorin, die mit dem Niederschreiben ihrer Lebensgeschichte versucht hat eine „ungebrochene Identität“ zu rekonstruieren. In der anschließenden Diskussion wurde mit Rekurs auf postkoloniale Theorien problematisiert, ob es denn überhaupt eine „ungebrochene Identität“ geben könne.

Im Anschluss leiteten Elke Kleinau und Ingvill C. Mochmann die Podiumsdiskussion mit sechs Besatzungs- und Wehrmachtskindern ein. Auf Fragen zu Resilienzfaktoren und welche Bedeutung die Vergangenheit als Besatzungskind in der Gegenwart habe, wurden ganz unterschiedliche Erfahrungen und Lebensgeschichten berichtet. Auf die Frage was sie selbst für wichtig empfänden, plädierten alle für mehr Offenheit im Umgang mit der Herkunft der Wehrmachts- und Besatzungskinder.


Nach der anschließenden Buchpräsentation „Besatzungskinder. Die Nachkommen alliierter Soldaten in Österreich und Deutschland“, herausgegeben von Barbara Stelzl-Marx und Silke Satjukow (Böhlau-Verlag, Wien), wurde der erste Tag offiziell beendet und den TeilnehmerInnen der Tagung die Gelegenheit gegeben, sich die Fotoausstellung über europäische Wehrmachts- und Besatzungskinder – organisiert von Winfried Behlau und Arne Øland – anzusehen.

Der zweite Konferenztag begann mit einem Vortragsblock, in dem Studien präsentiert wurden, die sich vorwiegend quantitativer Methoden bedienen. Heide Glaesmer und Marie Kaiser (Universität Leipzig) stellten ihre – in Zusammenarbeit mit Philipp Kuwert (Universitätsmedizin Greifswald) - entstandene Untersuchung über Risiko- und Schutzfaktoren beim Aufwachsen als Besatzungskind vor. Ihre Ergebnisse sind das Resultat einer Fragebogenbefragung mit 146 TeilnehmerInnen. Fragen waren unter anderem wie die Lebensbedingungen in der Kindheit und Jugend wahrgenommen wurden, ob es Erfahrungen mit Vorurteilen und Selbststigmatisierung gab, nach der Identität als Besatzungskind oder Beziehungsgestaltungen im Erwachsenenalter. Kategorische Einteilungen waren beispielsweise das Herkunftsland des Vaters und die Art der Beziehung der Eltern. Die Ergebnisse zeigten auf, dass über die Hälfte der Befragten Erfahrungen mit Vorurteilen gemacht hatten. Vom sozialen Umfeld und öffentlichen Einrichtungen seien die meisten Diskriminierungen ausgegangen. Als Ursachen für diese Vorurteile gaben die Befragten die Auswirkungen des verlorenen Krieges, Rassismus, den unehelichen Status der Kinder und die fehlende Aufklärung über die Entstehung der Kinder an. Fast die Hälfte sagten aus, eine traumatische Erfahrung gemacht zu haben. Generell könne man zusammenfassen, dass Besatzungskinder eine Gruppe mit vielen Risikofaktoren für psychische Störungen bilden.

Im Anschluss referierte Martin Miertsch (Universitätsmedizin Greifswald, Helse Bergen, Norwegen) über die psychosozialen Konsequenzen von in Norwegen aufgewachsenen Besatzungskindern. Das noch laufende Projekt, an dem eine Gruppe von WissenschaftlerInnen aus Deutschland und Norwegen beteiligt sind, startete 2013 und von insgesamt 370 Fragebögen, die an Mitglieder des Norges Krigsbarnforbund (NKBF) und den Krigsbarnforbundet Lebensborn geschickt wurden, konnten bis jetzt 75 ausgewertet werden. Im Laufe des Krieges wurden in Norwegen 13 Lebensbornheime errichtet und knapp 8000 Lebensbornkinder registriert. Zudem gab es 10.000 bis 12.000 Wehrmachtskinder in Norwegen. Als uneheliche Kinder und als „Kinder des Feindes“ wurden sie von ihrem sozialen Umfeld ausgegrenzt und diskriminiert. Die bisher ausgewerteten Fragebögen ergeben, dass es eine hohe Rate psychosozialer Belastungen und eine oder mehrere traumatische Erfahrungen unter den Befragten gibt.

Ein weiterer Vortrag aus der gleichen Studie untersuchte die Lebenszufriedenheit norwegischer Wehrmachtskinder 70 Jahre nach Kriegsende. Der Vortrag wurde von Andrea Meckel (GESIS) und Ingvill C. Mochmann (GESIS und CBS) gehalten und ging von dem theoretischen Hintergrund aus, dass negative Erfahrungen in der Kindheit Auswirkungen auf späteres Vertrauen zu anderen Menschen haben und dieses wiederum die Lebenszufriedenheit beeinflusst. In der Studie haben die Befragten ihr Verhältnis zu Bezugspersonen, ihr Vertrauensvermögen und ihre Lebenszufriedenheit bewertet. Es konnte gezeigt werden, dass Personen, die ein besseres Verhältnis zu ihren Bezugspersonen in der Kindheit hatten ebenfalls eine höhere Lebenszufriedenheit hatten. Allgemein gaben die StudienteilnehmerInnen an, ein gutes bis sehr gutes Verhältnis zu ihren Bezugspersonen gehabt zu haben. Auch die Fähigkeit oder der Wille anderen zu vertrauen war in der Regel recht hoch.

Der zweite Block des Tages wurde mit dem Vortrag von Simone Tibelius (Landesarchiv Baden-Württemberg) begonnen, die sich mit den Unterhaltsprozessen von Wehrmachtskindern aus Norwegen und deutsch-amerikanischen Besatzungskindern beschäftigte. Auf der Grundlage von Akten des Deutschen Instituts für Vormundschaftswesen untersuchte sie die Vaterschaftsanerkennungen und Unterhaltszahlungen. Dieses Institut war spezialisiert auf grenzüberschreitende Unterhaltsverfahren und vertrat die Interessen der Mütter und Kinder. Von 1945 bis 1955 waren Vaterschaftsklagen wenig aussichtsreich, da es an rechtlichen Möglichkeiten fehlte. Für die Mütter waren Unterhaltszahlungen somit keine zuverlässige Ressource. Erst in den 1960 Jahren änderte sich die Rechtslage.

Im anschließenden Vortrag erörterte Azziza B. Malanda (Universität Hamburg) die biografischen Verläufe und lebensgeschichtlichen Erfahrungen von ehemaligen afrodeutschen Heimkindern. Im Rahmen ihres geschichtswissenschaftlichen Dissertationsprojekts untersuchte sie anhand von 12 biografisch-narrativen Interviews mit Betroffenen die Risikofaktoren in den Lebensläufen und die Auswirkungen dieser Risikofaktoren auf die Persönlichkeitsentwicklung. Als afrodeutsche Besatzungskinder haben diese Heimkinder eine vierfache Stigmatisierung erlebt: Sie waren unehelich, „Kinder des Feindes“, ‚schwarz‘ und im Heim aufgewachsen. Trotzdem haben die Befragten mehrheitlich resümiert, dass sie an den Erfahrungen nicht zerbrochen seien. Anhand eines Fallbeispiels erläuterte Azziza B. Malanda die Bewältigungsstrategie der Risikofaktoren und kam zu dem Schluss, dass der Resilienzfaktor in den jeweiligen zeithistorischen Kontexten, Lebenssituationen und Lebensbereichen variiere und ein komplexes Zusammenspiel aus Individuum und Umwelt sei.

In den beiden folgenden Vorträgen wurde das Tagungsthema ausgeweitet auf zwei zeitgenössische Vergleichsgruppen von Kindern. Verena Buser (Alice Salomon Hochschule Berlin und Zentrum Jüdische Studien Berlin Brandenburg) thematisierte die Situation polnischer oder tschechischer Kinder, die in der Zeit des Nationalsozialismus geraubt und ‚germanisiert‘ werden sollten und stellte in ihrem Vortrag die beiden Organisationen United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) und die International Refugee Organization (IRO) vor. Die Suche nach eingedeutschten Kindern, die von der UNRRA 1946 eingeleitet wurde, war eine der größten Massensuchaktionen im befreiten Deutschland. Es wurden Children´s Center, Orte des Neuanfangs gegründet, die sich um die Renationalisierung der Kinder kümmerte. Die Unwissenheit über die eigene Verschleppung und ein bewusstes Vergessen der Vergangenheit seitens der Kinder machten die Zurückführung jedoch oftmals unmöglich.

Baard Herman Borge (Harstad University College) ging in seinem Vortrag auf die Kinder von norwegischen Nazikollaborateuren und deren Schulerfahrungen ein. Diese Kinder von Eltern, die in der norwegischen Nazi-Partei waren und den Einmarsch der Deutschen begrüßten, bezeichnete er als „vulnerable school children“ und untersuchte ihre Persönlichkeit, ihre Charakteristika und ihre Stigmatisierung. Unter besonderer Beobachtung des historischen Kontextes überlegte er, ob die Handlungsvarianten von Lehrkräften einen Unterschied für die Persönlichkeitsentwicklung der „Nazi-Kinder“ haben konnten.

Der letzte Vortrag dieser Tagung wurde von Elke Kleinau und Rafaela Schmid (Universität zu Köln) gehalten, die erste Ergebnisse aus ihrem aktuellen Forschungsprojekt zu Besatzungskindern präsentierten. Anhand von biografisch-narrativen Interviews erarbeiten sie die Lebensläufe und Sinnkonstruktionen von Besatzungskindern und gingen der Frage nach, aus welchen Ressourcen diese Kinder schöpften, die als Erwachsene zumeist erfolgreiche Bildungs- und Berufskarrieren aufweisen. Mit der Vorstellung zweier ausgewählter Fallbeispiele verdeutlichten Rafaela Schmid und Elke Kleinau, dass es – entgegen bisher geäußerter Erwartungen – von den InterviewpartnerInnen durchaus positiv thematisiert wurde, nicht bei der leiblichen Mutter bzw. dem leiblichen Vater aufgewachsen zu sein. Verlässliche zwischenmenschliche Beziehungen und Bildungsambitionen wurden gerade nicht mit Elternschaft assoziiert, sondern in einem Fall sogar mit dem Aufwachsen im Kinderheim, das als die „schönste Zeit“ im Leben erinnert wird.

Die Abschlussdiskussion stand unter dem Titel „Kinder des Krieges in Gegenwart und Zukunft“. Sie brachte klare Forderungen zur Stärkung der Position der Mütter und der Kinder hervor und betonte die Verantwortung der Eltern, der Gesellschaft und des Staates. Man müsse darauf hinarbeiten, dass erkannt wird, dass nicht die Kinder das Problem seien, sondern die Gesellschaft, die sie zu ‚Anderen‘ und zu ,Fremden‘ stempele. Des Weiteren wurde die Problematik der Terminologie besprochen. Sämtliche Begriffe bedeuteten eine Stigmatisierung dieser Gruppe. Als neutraler Begriff wurde „Children born of War“ (Kinder des Krieges) aufgegriffen, der 2006 in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt wurde. Zu guter Letzt wurde die Brücke geschlagen zu aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen und daraus hervorgehenden „Kindern des Krieges“. Konsens war, dass die Vernetzung der internationalen Friedensbewegung von Nöten sei, um diesen Kindern zu helfen.


Daniela Reinhardt

 

 

 

 

 


[1] Die Bezeichnung, die aus dem maghrebinischen Arabisch stammt, wurde von der französischen Armee verwendet, um Stammesunterschiede zu umgehen und Freiwillige aus verschiedenen Regionen in gemischten Einheiten zusammen zu fassen.